"Eltern haben einen erheblichen Einfluss auf das Lernverhalten ihrer Kinder." – zwei Mathematik-Experten im Interview

20 Fragen an Prof. Dr. Hartmut und Jule Spiegel
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Lieber Herr Prof. Dr. Spiegel*, was fasziniert Sie an der Zahlenwelt?

Dass Zahlen kein ungeordnetes Chaos sind sondern dass man sie nach bestimmten Regeln ordnen und verknüpfen (d.h. mit ihnen rechnen) kann.

Mochten Sie selbst als Kind das Fach Mathematik und Zahlen?

Daran habe ich leider keine präzise Erinnerung und es gibt auch niemanden mehr, den ich dazu befragen kann. Zumindest hatte ich keine Probleme damit. Nachgedacht habe ich darüber, ob es Sinn macht, zu fragen, ob man Zahlen mag – in dem Sinne wie man z.B. ein bestimmtes Bild oder Musikstück mag. Zahlen existieren sowieso nur in Köpfen von Personen, sie sind geistige Werkzeuge, mit denen sich bestimmte Aspekte unserer Umwelt modellieren lassen. Da es aber auch bei Werkzeugen vorkommen kann, dass man welche besonders mag, wie z.B. Schweizer Taschenmesser  oder Dietriche, macht die Frage vielleicht doch Sinn. Mathematik mochte ich bestimmt! Sicherlich schon deshalb, weil ich hier Erfolgserlebnisse hatte.

Außerdem braucht und kann einem in der Mathematik keiner etwas vormachen. Sehr vieles kann man selbst entdecken und man kann auch ohne Lehrperson selbst über „richtig“ und „falsch“ entscheiden. Da es hauptsächlich um „Denknotwendigkeiten“ geht ist die Mathematik das Fach, bei dem sich am ehesten das „Selbstvertrauen in die Kraft des eigenen Denkens“ entwickeln und entfalten kann. Beispiel: Ein Erwachsener behauptet: „Eine Zahl die man durch 4 und durch 6 teilen kann, ist auch durch 24 (4·6) teilbar.“ Ein Kind kann ihn sofort - ohne bei Google oder einer anderen Autorität nachschlagen zu müssen - der Falschaussage überführen, indem es die Zahl 12 als Gegenbeispiel angibt.

Ursprünglich sind Sie Grundschullehrer...

Das ist nur die halbe Wahrheit. Ich bin ursprünglich Diplom-Mathematiker und habe zusätzlich das 1. Staatsexamen für das Lehramt Gymnasium für Mathematik und Physik sowie eine Promotion in Mathematik. Danach habe ich 2 Jahre als Assistent an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen gearbeitet. Während meiner Zeit als Assistenzprofessor an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz habe ich Grundschullehramt studiert mit dem 1. Examen als Abschluss. Grundschullehrer im eigentlichen Sinne des Wortes war ich nie, ich habe aber im Rahmen meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit viele Stunden mit unterrichtlicher und diagnostischer Arbeit mit Kindern verbracht.

Wie kommt es, dass sie nun auch Aufklärarbeit in Sachen Didaktik bei Grundschülern leisten?

Eine Tätigkeit als Lehrender für Mathematik und deren Didaktik in der Lehrerausbildung sah ich als ein lohnenswertes Berufsziel an, seit ich in den 60er-Jahren Heinrich Bauersfeld kennenlernte. Er ist einer der ganz Großen im Bereich der Mathematik-Didaktik – damals Professor an der Pädagogischen Hochschule Hannover, später an der Universität Frankfurt und am Institut für Didaktik der Mathematik in Bielefeld. Durch das Grundschullehramtsstudium meiner Frau habe ich auch schon während meines Mathematikstudiums mitbekommen wie wichtig es ist, dass zukünftige GrundschullehrerInnen eine Begeisterung für die elementare Mathematik mitbringen und die Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die nötig sind, Kinder auf ihrem Weg in die Mathematik angemessen zu unterstützen. In diesem Sinne einen Beitrag zur Lehrerbildung zu leisten, war für mich von da an Hobby und Beruf zugleich, da ich sowohl von der Mathematik fasziniert bin als auch davon, wie sich Kinder entwickeln können, wenn sie in einem guten Lebens- und Lernumfeld aufwachsen.

Liebe Frau Spiegel*, Sie unterrichteten bis 2007 als Grundschullehrerin auch das Fach Mathematik. Über welche Probleme klagen Kinder beim Lernen am meisten?

Ich habe keine Kinder erlebt, die klagen. Die Kinder, die ich erlebt habe, ließen sich zunächst auf die Bearbeitung von Aufgaben und Problemen ein, probierten, Lösungen zu finden. Wenn sie nicht weiterkamen, baten sie um Hilfe. Beim gemeinsamen Überprüfen der Lösungen ergaben sich oft verschiedene Lösungswege. Schüler, die nicht zu einem Ergebnis gekommen waren, hatten häufig ein Aha-Erlebnis und wussten danach, wie sie zu einem Ergebnis kommen können.

Wie gehen die Schulanfänger die Thematik an, gibt es eine allgemeine Scheu vor der Mathematik und dem Rechnen?

Scheu kann es geben, wenn vor der Schule schon vermittelt wird, dass Rechnen schwer ist oder dass die Erwachsenen selbst Probleme mit der Mathematik hatten.

Wie würden Sie beide den Einfluss der Eltern auf das Lernverhalten ihrer Kinder beurteilen?

Eltern haben einen erheblichen Einfluss. Ein großer Teil des Lernens findet außerhalb der Schule statt. Eltern und ihre Erziehung prägen das Lernverhalten. Der Umgang mit Erfolg und Misserfolg hat einen großen Einfluss auf die Motivation eines Kindes.

Wie schwerwiegend sind Kommunikationsprobleme zwischen Eltern und Schülern beim gemeinsamen Lernen und was bedeutet das für den Lernerfolg?

Eltern haben natürlicherweise ein hohes Leistungsziel für ihre Kinder, ergänzt durch Erwartungen wie „glücklich sein, beliebt sein, fröhlich sein“. Sie schauen deswegen häufig zu kritisch auf momentane Lernergebnisse ihrer Kinder. Man nennt dies „defizitorientierte Sichtweise“, d.h. aktuellen „Schwächen“ wird zu viel Gewicht verliehen vor dem Hintergrund, diese beseitigen zu wollen. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass sich die Kinder noch in einer Entwicklung befinden und dass Kinder häufig anders denken als Erwachsene möchten oder erwarten. Das führt vielfach zu einer Form von Einmischung in den Lernprozess, die Kinder am Lernen hindert.

Wie kann man Ihrer Meinung nach Kinder am besten unterstützen wenn sie sich mit Mathe schwer tun?

  1. Die Kinder ausgeschlafen und nach einem Frühstück in Ruhe in die Schule schicken.
  2. Bei den Hausaufgaben genau hinschauen. Fehler passieren. In dem Fall lassen Sie sich von Ihrem Kind den Lösungsweg erklären. Nachfragen, nichts vorsagen und ermuntern, in der Schule nachzufragen.
  3. Keinesfalls sollten sich Erwachsene in Gegenwart der Kinder negativ über Lehrer äußern. Bei Problemen am besten direkt mit der Lehrperson sprechen.

Was sollte am unserem Bildungssystem noch verbessert werden?

Es sollten nicht mehr als 20 Kinder in einer Grundschulklasse sitzen, damit eine ausreichend gute Betreuung für jeden Schüler gewährleistet werden kann. Dies sollte ergänzt werden mit Unterstützung durch Psychologen und Sozialarbeiter an allen Schulen.

Wie erkenne ich, ob mein Kind eine Rechenschwäche hat?

„Rechenschwäche“ ist ein ausgesprochen problematischer Begriff. Er unterstellt, dass es sich um eine Krankheit handelt. In den meisten Fällen sind besondere Schwierigkeiten beim Rechnen auf bereits genannte ungünstige Vorerfahrungen der Kinder zurückzuführen. Oftmals ist auch der Unterricht für ein Kind nicht geeignet. (Vorsicht: Eltern können eine Rechenschwäche nicht diagnostizieren - Kinderärzte auch nicht. Gewarnt werden muss vor Diagnosen durch Einrichtungen, die selbst hohe Profite mit nicht immer qualifizierten Maßnahmen erzielen.)

Was sollte ich tun, wenn bei meinem Kind eine Rechenschwäche diagnostiziert wurde?

In der Regel sind die eigenen Eltern nicht ideal als Nachhilfelehrer. Der erste Schritt sollte sein mit der Schule abzuklären, wie mit dem Problem umzugehen ist und welche Unterstützung von Seiten der Schule angeboten wird.

Ist mathematisches Können genetisch, kann man es anerziehen?

Sicherlich sind Bestandteile mathematischer Begabung auch angeboren. Durch geeigneten Unterricht bzw. Förderung, die die Freude an der Mathematik und das Selbstvertrauen in die Kraft des eigenen Denkens unterstützen, kann zudem viel erreicht werden. Interessant ist, dass z.B. häufig Kinder, die in Arithmetik (Arithmetik:Lehre vom Rechnen mit Zahlen) Schwierigkeiten haben, sehr stark im geometrischen Bereich sind.

Wie kann man das Zahlenverständnis von Kindern praxisnah und mit Spaß fördern?

Unter anderem durch Spiele, bei denen Zahlen eine Rolle spielen bzw. gezählt und gerechnet werden muss. Im täglichen Leben beim Tisch decken, gerechtem Verteilen , Einkaufen, Uhrzeit und Kalender („Wie oft muss ich noch schlafen), Längenmessung („Wie groß bin ich“, „Wie viel bin ich gewachsen?“)

Wo liegt der größte Unterschied in der Denkweise von Kindern und Erwachsenen?

Erwachsene glauben häufig, dass es nur einen bestimmten Lösungsweg gibt und dass dieser für alle der einfachste ist, während Kinder häufig kreativer mit Rechenaufgaben umgehen und mit ihren eigenen Wegen erfolgreich zum Ziel kommen.

Wodurch entstehen beim gemeinsamen Lernen Missverständnisse?

Missverständnisse entstehen z.B. wenn Eltern ihren Kindern nicht genau zuhören und die eigenen Wege der Kinder nicht nachvollziehen können.

Was empfehlen Sie Eltern, die selbst schlecht in Mathematik sind und ihrem Kind dennoch helfen wollen?

In diesem Fall ist sicherlich Hilfe von außen, wie z.B. in Form eines Nachhilfelehrers eine gute Lösung.

Können Sie ein einfaches (Bei)Spiel nennen, wie Eltern und Kinder sich spielerisch mit Zahlen beschäftigen können?

Das hängt vom Alter der Kinder ab. Es gibt unter Anderem Würfelspiele, Zahlendomino, „Ordnungsmemory“. Spiele dieser Art schulen bereits das mathematische Verständnis.

Gibt es eine "Angst" vor Mathematik?

Es gibt durchaus Schüler, denen das Fach Mathematik Angst und Unbehagen bereitet. Diese kann nur durch unangemessene Verhaltensweisen von Erwachsenen erzeugt worden sein.

Sie haben einige Gesellschaftsspiele entwickelt, die den Umgang mit geometrischen Formen, Bauklötzen und Dreiecken beinhalten. Inwiefern fördert das auch das mathematische Verständnis?

Geometrie ist ein bedeutsames Teilgebiet der Mathematik. Durch die Beschäftigung mit Geometrie wird das räumliche Vorstellungsvermögen gefördert. Dieses ist auch ein wichtiger Faktor beim arithmetischen Denken – zum Beispiel bei geometrischen Darstellungen von Zahlen und Zahlverknüpfungen wie beim Zahlenstrahl und Punktefeldern. Wir bedanken uns bei Jule und Prof. Dr. Hartmut Spiegel für das Interview! In unserem Blogbeitrag mit spannenden Lernspieltipps findet Ihr unter anderem auch von Professor Hartmut Spiegel und Jule Spiegel entwickelte Spiele, die wir für Euch getestet haben.

*Prof. Dr. Hartmut Spiegel ist am Institut für Mathematik der Universität Paderborn  tätig. Sein Engagement in der Entwicklung guter Lernangebote hat Ihn über seine Tätigkeit als Hochschulprofessor hinaus bekannt gemacht. Gemeinsam mit seiner Frau Jule Spiegel, die Grundschullehrerin ist, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Kindern die Welt der Zahlen verständlich zu machen und Erwachsenen die Augen dafür zu öffnen, dass Kinder anders lernen und begreifen.
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