Unsere ergonomischen Produkte sollen Kinder auf ihrem Weg in die Schule und in ihrer Freizeit begleiten und sie in ihrer Entfaltung stärken. Dazu gehört, dass sie bei der täglichen Bewegung der Kleinen fest am Körper sitzen und so individuell angepasst werden können, dass sie auch mit vielen Schulbüchern bepackt die Belastung auf Muskeln, Knochen und Gelenke gering halten. Zusätzlich kann die Belastung durch eine gesunde und bewegte Lebensweise verringert werden – denn sie prägt ganz entscheidend die Fitness und damit auch die Entwicklung der Körperhaltung, sodass ein gesunder Rücken ein höheres Gewicht besser verkraften kann. Im Interview mit Dr. Dieter Breithecker möchten wir darüber sprechen, warum Bewegung für Kinder so wichtig ist, wie Eltern die Entwicklung ihrer Kinder bestmöglich fördern können und worauf im Schulalltag geachtet werden sollte. Dr. Dieter Breithecker ist Sport- und Bewegungswissenschaftler, Fachautor, anerkannter Dozent und Referent im Bereich der vorbeugenden Rückenschule und leitet die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V.
1. Wieso ist Bewegung so wichtig und warum bezeichnen Sie Bewegung als Grundlage der Hirnreifung?
Bewegung ist der Motor kindlicher Entwicklung. Das Bedürfnis zu klettern, zu springen, zu schwingen, zu balancieren, mit Bällen zu spielen oder auch nicht still sitzen zu können wird Kindern mit in die Wiege gelegt. Der Drang zu Bewegung ist somit in der Natur des Menschen verankert und fördert auf natürlich und gesunde Weise die Bewegung und letztendlich die Entwicklung der Kinder. Die genannten Bewegungsgrundtätigkeiten sowie spielend mit anderen die Umwelt zu erkunden sind erst einmal wichtiger als sportliche Aktivitäten und stellen die Voraussetzung einer nachhaltigen körperlichen und geistigen Entwicklung dar. Sobald die Muskeln der Kindern aktiv sind, werden unentwegt molekulare Botenstoffe freigesetzt (u. a. Eiweißstoffe, Hormone), die den Stoffwechsel im gesamten Körper positiv beeinflussen. Darüber hinaus sind sie bedeutend für die Neubildung und Verschaltung von Nervenzellen im Gehirn.
2. Sie sprechen von der „Sitzträgheitsfalle“, in der sich unsere Kinder heutzutage befinden. Was genau meinen Sie damit?
In der „Sitzträgheitsfalle“ befinden sich Kinder, wenn sie viele Stunden am Tag sitzend verbringen anstatt sich vielseitig und gemeinsam mit anderen zu bewegen. Studien belegen, dass Kinder heute im Durchschnitt bis zu 9 Std. am Tag sitzen. Und hierfür sind nicht nur Schule und Hausaufgaben verantwortlich zu machen. Die unreflektierte Nutzung von Spielkonsolen, Smartphones, Fernseher und Co. ist ein unterschätzter Risikofaktor. Die dadurch mitverursachte körperliche Trägheit hat zur Folge, dass der heutigen Generation eine geringere Lebenserwartung im Vergleich zu ihren Eltern prognostiziert wird.
3. Wie können Eltern die Entwicklung ihrer Kinder bestmöglich fördern?
Ganz entscheidend durch ein vorbildliches Verhalten, aber auch dadurch, dass sie sich dafür interessieren, was Kinder für ihre Entwicklung wirklich benötigen. Letzteres ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach, da es heute eine unüberschaubare Vielzahl an gut gemeinten Ratschlägen aber auch Mythen gibt. Ganz entscheidend ist, dass sie den Alltag des Kindes nicht bis auf das Letzte durchorganisieren. Kinder brauchen Zeit und Raum für selbstorganisiertes Spielen und Bewegen mit anderen. Sie wollen sich selbst bewegen, anstatt von anderen bewegt zu werden. Eltern sollten einfach mal ihre eigene Kindheit reflektieren und sich daran erinnern, was sie zu ihrer Kindheit im freien Spiel mit anderen alles erlebt haben.
4. Wie fürsorglich dürfen Eltern dabei sein?
Leider ist die gutgemeinte Fürsorge der Erziehungsberechtigten häufig eine Bewegungs- und damit leider auch eine Entwicklungsbremse. Kinder sind die wahren Experten ihrer Entwicklung. Das, was im Rahmen der kindlichen Selbstorganisation von Bewegung Spaß macht, muss auch „unter die Haut gehen“. Der Spielwert liegt auch im Spielrisiko. Aber der so wichtige Umgang mit Wagnis und Risiko geht meist nicht konform mit dem Sicherheitsdenken von Erwachsenen. Auch wenn sich dieser Vergleich für Eltern provokant anhört: „Spannen Sie lediglich ein Sicherheitsnetz, aber lassen Sie Ihre Kinder alleine balancieren!“
5. „Kindern vertrauen bedeutet ihnen viel zuzutrauen.“ Welche Rolle spielt Vertrauen und Loben bei der Bewegungsförderung?
Beides zusammen sind die Grundlagen von Entwicklungspädagogik. Vertrauen bedeutet erst einmal, die eigenständige bewegte Umwelterkundung des Kindes zu unterstützen, ohne ständig mit einer übersichernden Hand aktiv einzugreifen. Kinder wollen keine „geebneten“ Wege gehen, sie suchen „Barrieren“, die sie überwinden können. Dann haben sie das Gefühl, es gerade geschafft zu haben. Hier darf dann das „ehrliche Lob“ erfolgen, da es konform geht mit dem subjektiven Erfolgsempfinden.
6. Der Sinn einer Sache kommt durch die Sinne – wieso liegen Greifen und „Be-greifen“, Fassen und „Er-Fassen“, also Vorstellen und Handeln, so nah beieinander?
Das Heranwachsen von Kindern basiert auf entwicklungsgeschichtlichen und entwicklungsphysiologischen Gesetzmäßigkeiten. Damit Kinder Dinge geistig erfassen können, sind eigene Erfahrungen Voraussetzung. Durch das Sammeln von vielfältigen unmittelbaren Erfahrungen können Kinder die Angebote des Alltages mit ihren Körpern „be-greifen“, noch bevor sie sie geistig begreifen können. Anders ausgedrückt: die konkreten Erfahrungen in jungen Jahren sind Grundlage für das abstrakte Denken in den späteren Jahren.
7. Mit Beginn der Schulzeit nimmt der Einfluss der Eltern ab und die Schule übernimmt einen Großteil der Tagesplanung. Welche Gefahren sehen sie dabei für die kindliche Entwicklung?
Ich würde das nicht als Gefahr sondern als Chance sehen. Schließlich empfangen gut ausgebildete Pädagogen, die auch bewegungspädagogisch geschult sind, das Kind. Gerade die Grundschulen reagieren inzwischen mit einem bewegungsfördernden Schulkonzept auf die Bewegungsmangelsituation in unserer Gesellschaft im Allgemeinen und die bei Kindern im Speziellen. Eltern sollten sich hier informieren und Initiativen wie die „Bewegte Schule“ unterstützen und gegebenenfalls einfordern.
8. Worauf sollten Eltern und Lehrer im Schulalltag achten und wie können sie die „Sitzmisere“ verbessern?
In der Grundschulzeit ist eine Sitzdauer von fünf Minuten schon eine Herausforderung. Kinder reagieren hier sehr autonom, wenn sie auf dem Stuhl kippeln, unruhig herumrutschen oder variable Sitzhaltungen auf dem Stuhl einnehmen. Das ist erst einmal gut so. Zusätzlich sollte das Sitzen so häufig wie möglich unterbrochen werden. Stehen an Stehpulten, auf dem Boden auf speziellen Matten sitzen, bewegt unterrichten: das sind Methoden und Organisationsformen, die dem Bewegungsbedarf und damit der Gesundheit und dem Lernverhalten der Kinder entsprechen. Wenn Schulmöbel angeschafft werden, ist dringend darauf zu achten, dass diese an die Körperproportionen der Heranwachsenden angepasst werden können und dass die Sitzflächen flexible, am besten dreidimensional bewegliche Funktionen haben.
9. Was steckt hinter dem Konzept „Bewegtes Lernen“?
Bewegtes Lernen bedeutet Lernen ohne stundenlang körperlich starr und mental ermüdet auf einem Stuhl sitzen zu müssen – eine Unterrichtsform, die die Schüler aktiv in den Lernprozess einbindet. Projektarbeit, Gruppenarbeit, selbstorgansiertes Lernen, Freiarbeit, Wochenplanarbeit stehen synonym für Unterrichtsmethoden und Organisationsformen, in denen Körper, Geist und Emotionen in einem wechselseitigen Bezug stehen und so Lernen nachhaltiger gestaltet werden kann.
10. Worin liegt für Sie der Unterschied zwischen Bewegung und Sport?
Häufig werden die Begriffe synonym verwendet. Bewegung ist aber unter gesundheitlichen Gesichtspunkten mehr als Sport. Sport im engeren Sinn ist ein eher organsiertes Sich-Bewegen hinsichtlich Ort, Zeit und Intensität und verfolgt eine bestimmte Intention, wie beispielsweise Leistungsverbesserung hinsichtlich Technik oder organischer Funktionen. Bewegung dagegen ist häufig spontan, selbstorganisiert und findet vor allem dann statt, wenn Menschen ein Bewusstsein für die vielen Bewegungsangebote des Alltages entwickeln und diese aktiv für sich und ihre Gesundheit nutzen – beispielsweise das Treppensteigen der Rolltreppennutzung vorziehen. Bewegung basiert auf einem insbesondere bei Kindern ausgeprägtem Bedürfnis spielerisch und aktiv die Umwelt selbständig zu erkunden und zu erobern und trägt somit „ganz nebenbei“ zur Entwicklung von Bildung und Gesundheit bei.
11. In verschiedenen Publikationen kritisieren Sie die Spielplätze in Deutschland. Weshalb?
Die meisten Spielplätze – und hier sind nicht die Sandspielplätze für die ganz Kleinen gemeint – verwahrlosen. Das heißt, sie werden von Kindern kaum nachhaltig angenommen. Ein wesentlicher Grund ist, dass sie von Erwachsenen ohne ausreichende Kenntnisse für kindliche Bedürfnisse geplant sind. Übersichernd“, „wenig herausfordernd bzw. motivierend“, „ästhetisch“, „normenorientiert“ sind nur einige Restriktionen des freien und spontanen Spielens. Das ist erst einmal ein hartes Urteil, aber es entspricht den Tatsachen. Natürlich müssen Spielplätze sicher sein, aber sie müssen auch die Kinder zum Spielen und Bewegen „verführen“: Das heißt, es muss sich für die Kinder „lohnen“, aktiv zu werden. Deshalb reicht es nicht aus, wenn bei der Planung pädagogische „Laien“ sich nur an den Normen orientieren ohne den pädagogischen Wert des Spielens und Bewegens in die Waagschale zu werfen. Jede Spielplatzplanung braucht für ein kindgerechtes Angebot eine vernünftige Balance zwischen kalkulierbarem Risiko und entwicklungsphysiologischem Nutzen.
12. Sie können das mit ihrem Expertenwissen beurteilen – aber für Eltern ist es schwierig einzuschätzen, ob Spielplätze, deren Geräte oder auch Produkte wie die Schultasche oder der Schreibtisch entwicklungsfördernd sind. Wo und wie können sich Eltern informieren?
Für die Spielplatzsicherheit sind nicht die Eltern, sondern die Experten verantwortlich. Das sollten kundige Personen sein, die insbesondere dafür sorgen, dass Spielplätze für Kinder interessant sind, Kinder zu begeistern wissen und von ihnen angenommen werden. Das verlangt mehr Kompetenz als nur die Spielplatznorm zu interpretieren. Eltern können sich aber auf der Internetseite www.besondersentwicklungsfoerdernd.de ein Bild über die Kriterien entwicklungsfördernder Spiel- und Bewegungskonzepte machen. Für die das Kinderleben begleitende Produkte wie Schulranzen bzw. Schulrucksäcke oder Schul- und Freizeitmöbel finden Eltern wichtige Anregungen auf der Internetseite www.agr-ev.de (Broschüre zu rückengerechten Produkten) bzw. auch auf www.haltungbewegung.de unter der Rubrik „Wissen.“ Wir bedanken uns bei Dr. Dieter Breithecker für dieses interessante Interview.